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Hubert Wolf Die Nonnen von Sant'Ambrogio Hubert Wolf
Die Nonnen von Sant'­Am­bro­gio.
Eine wahre Geschichte.
dtv 2015, 544 Sei­ten
ISBN 978-3-423-34844-7

Das 19. Jahrhundert er­leb­te ei­ne Renaissance mystischer Er­schei­nun­gen wie Visionen, Eks­ta­sen, Wun­der­hei­lun­gen und Men­schen, an de­nen sich die Wund­ma­le Christi als Stig­ma­ta zeig­ten. Vor allem wa­ren Frau­en betroffen und unter ih­nen häu­fig Non­nen. Be­kannt ge­wor­den ist Ka­tha­ri­na Em­me­rick (1774 – 1824), deren Visionen der Schrift­stel­ler Cle­mens Bren­ta­no auf­zeich­ne­te und ver­brei­te­te. In Italien gab es – un­ter anderen – Maria Agne­se Firrao, die Äb­tis­sin des von ihr ge­grün­de­ten Konvents im Klos­ter Sant'Ambrogio in Rom. Von ihren Mitschwestern und ei­nem Teil des Klerus wur­de sie als lebende Hei­li­ge verehrt. Die rö­mi­sche Kurie sah das an­ders, verbannte Ma­ria Ag­ne­se in ein ent­fern­tes Kloster und un­ter­sag­te ihr jeden Kon­takt zu ihren ehe­ma­li­gen Mit­schwes­tern. Wie sich später he­raus­stell­te ohne jeden Er­folg. In Sant'Ambrogio wurden wei­ter Reliquien Maria Ag­ne­ses an­ge­be­tet und sie selbst als Heilige angerufen.

13jährig trat Maria Luisa Ridolfi dem regulierten Dritten Orden des hei­li­gen Fran­zis­kus bei und wur­de Teil dieser Ver­eh­rung und des damit ver­bun­de­nen Glau­bens an die Visionen und Eks­ta­sen der Maria Agnese, die sich später dann auch bei ihr selbst ein­stel­len sollten. Und in noch größerem Ausmaß als zuvor. Briefe der Jung­frau Ma­ria, die in ei­nem Kästchen lan­de­ten, zu dem nur der Beicht­va­ter der Nonnen Zu­gang hatte, förderten ihre Kar­rie­re zur Vikarin und No­vi­zen­meis­te­rin, machten sie weit­ge­hend unabhängig von den klös­ter­li­chen Re­gu­la­rien, an denen sie sich nur mäßig be­tei­lig­te. Und erläuterten so manch un­ge­wöhn­li­che Ver­hal­tens­wei­sen der jun­gen Nonne. Als dann noch Jesus höchst­per­sön­lich an Maria Luisa schrieb, wa­ren ihr keine Gren­zen mehr ge­setzt.

Katharina von Ho­hen­zol­lern-Sig­ma­rin­gen (1817 – 1893), de­ren beide Ehen schon nach we­ni­gen Jahren mit dem Tod der Gatten endete, ent­wi­ckel­te den starken Wunsch, sich einer klös­ter­li­chen Ge­mein­schaft an­zu­schlie­ßen. Der Versuch, in der Gesellschaft vom Hei­li­gen Her­zen Jesu Fuß zu fassen, schei­ter­te, und sie zog nach Rom, wo ihr Erzbischof Karl August Graf von Reisach, ihr Beichtvater, zu einer Probezeit im Kloster Sant'Ambrogio della Massima verhalf.

Katharinas Absicht war es, mit ih­rem ererbten Vermögen selbst ein Kloster zu gründen, was auf das Interesse der No­vi­zen­meis­te­rin Maria Lui­sa traf, die sich schon als Äb­tis­sin die­ser Neugründung sah. Ent­spre­chend umwarb sie Katharina. Doch es kam zum Konflikt als Ma­ria Luisa Katharina einen Brief obs­zö­nen Inhalts zeigte, den sie von einem ihr nah ste­hen­den Deutsch-Ame­ri­ka­ner er­hal­ten hatte, der als be­ses­sen galt. Maria Luisa hatte ei­gen­hän­dig Exorzismen an ihm durch­ge­führt, was nicht nur allen ent­spre­chen­den Regeln wi­der­sprach, sondern auch den Verdacht nährte, dass es eine un­statt­haf­te Beziehung zwi­schen den beiden geben wür­de.

Inzwischen waren Ka­tha­ri­na auch weitere Merk­wür­dig­kei­ten im Klos­ter aufgefallen, die mit der Verehrung der als heilig be­trach­te­ten Maria Agnese im Zu­sam­men­hang standen so­wie dem Verhältnis der Vikarin zu einigen jungen Novizinnen, die hin und wieder ihre Nächte in der Zelle der Maria Luisa ver­brach­ten. Katharina wurde zur Be­dro­hung für die weitere Kar­rie­re Maria Luisas, und so kam es zu einigen Ver­gif­tun­gen, die Katharina zwar nicht – wie er­hofft – um­brach­ten, sie aber ge­sund­heit­lich stark in Mit­lei­den­schaft zogen. Ka­tha­ri­na wurde schließ­lich von ihrem Cousin, Erzbischof Gustav Adolf zu Hohenlohe-Schil­lings­fürst, gerettet und er­hob auf Anraten ihres neu­en Beicht­va­ters An­kla­ge gegen Maria Lui­sa, die vor dem rö­mi­schen In­qui­si­tions­tri­bu­nal verhandelt wur­de.

Zutage traten sexuelle Aus­schwei­fun­gen, Un­ter­schla­gun­gen, ver­gif­te­te Nonnen, von de­nen ei­ni­ge zu Tode ge­kom­men wa­ren, An­ma­ßun­gen der Hei­lig­keit und Be­trü­ge­reien der Ma­ria Lui­sa, sowie eine Be­tei­li­gung der beiden je­sui­ti­schen Beicht­vä­ter, die zum Teil aus gu­tem Glau­ben, zum Teil aus Kalkül und des eigenen Vorteils we­gen an den Machenschaften be­tei­ligt waren oder zu­min­dest von ihnen wussten und sie nicht un­ter­ban­den. Das Gleiche gilt auch für die Äbtissin des Klosters. Alle vier wurden zu un­ter­schied­lich hohen Strafen Klos­ter­haft verurteilt, der welt­li­chen Justiz aber nicht aus­ge­lie­fert, die für Mord die To­des­stra­fe vor­ge­se­hen hat­te. Mit der Zeit wurde die Län­ge der verhängten Stra­fen reduziert, Maria Lui­sa ge­lang­te his­to­ri­scher Umstände wegen wie­der auf freien Fuß, ihr weiteres Schicksal ist un­be­kannt. Einer der verurteilten Beichtväter – Giuseppe Pe­ters – wur­de, un­ter seinem bür­ger­li­chen Na­men – Jo­seph Kleut­gen –, zu ei­nem Berater der Kon­gre­ga­tion, die die Un­fehl­bar­keit des Papstes be­schloss, und nahm seine Lehr­tä­tig­keit am Col­le­gium Ger­ma­ni­cum wieder auf.

Katharina wurde später Stif­te­rin und Mit­be­grün­de­rin des Klosters Beu­ron.

Der Kirchenhistoriker Hu­bert Wolf hat durch intensives Ak­ten­stu­dium der Be­fra­gun­gen der beteiligten Personen, die Un­ter­la­gen sind erst seit 1998 zu­gäng­lich, sowie an­de­rer Le­bens­zeug­nis­se die Ge­schich­te und die Details die­ses fa­cet­ten­rei­chen Skandals unter­sucht und das Ergebnis mit dieser Schrift vorgelegt. Das Resultat ist ein wis­sen­schaft­li­chen An­sprü­chen ge­nü­gen­der Be­richt, der auf jede Art sen­sa­tions­hei­schen­der Dar­stel­lung ver­zich­tet.

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31. Oktober 2023

Religion

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