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Warlam Schalamow: Über Prosa Warlam Schalamow
Über Prosa.
Aus dem Russischen von Gabriele Leu­pold.
Herausgegeben und mit An­merkungen ver­se­hen von Fran­zis­ka Thun-Ho­hen­stein.
Mit einem Nachwort von Jörg Drews.
Matthes & Seitz 2009, 254 Sei­ten
ISBN 978-3-88221-642-4

Warlam Schalamow (1907 – 1982) wurde im Fe­bru­ar 1929 we­gen an­ti­sta­li­nis­ti­scher Pro­pa­gan­da ver­haf­tet und ver­brach­te die nächsten drei Jah­re in Arbeits- und Straf­la­gern. Nach seiner Frei­las­sung arbeitete er zunächst in ei­nem Che­mie­kom­bi­nat, ab 1934 als Jour­na­list. Erste li­te­ra­ri­sche Ver­öffent­li­chun­gen, dann er­neu­te Ver­haf­tung im Ja­nu­ar 1937 wegen "kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­rer trotz­kis­ti­scher" Aktivi­täten. Ohne Ge­richts­ver­hand­lung wird er zu fünf Jahren Zwangs­arbeit ver­ur­teilt und nach Si­bi­rien in die Gegend von Ko­ly­ma [1] de­por­tiert. Nach Ablauf der Haft­zeit bleibt er weiter in di­ver­sen La­gern gefangen, erst 1953 kommt er frei.

Er schreibt Gedichte und "Er­zäh­lun­gen aus Ko­ly­ma", die in Deutschland und Frank­reich er­schei­nen. In der Sow­jet­uni­on wird er zwar 1956 re­ha­bi­li­tiert, den­noch werden nur we­ni­ge seiner Ge­dich­te in Li­te­ra­tur­zeit­schrif­ten ver­öf­fent­licht.

"Über Prosa" versammelt vier Es­says, sechs Brie­fe (unter an­de­rem an Pasternak, Sol­sche­ni­zyn, Nadeshda Man­del­stam) und kurze Notizen, in de­nen Schalamow seine Po­si­tion zur Literatur ent­wi­ckelt. Der Roman ist tot, Me­moi­ren un­in­te­res­sant, al­lein das authentische Er­zäh­len, be­rei­nigt von jedem über­flüs­si­gen Ballast, hat eine Be­rech­ti­gung, das Ziel ist do­ku­men­ta­ri­sche Pro­sa. Sei­ne "Er­zählungen aus Kolyma" sind keine auto­bio­gra­phi­schen Texte, es sind Be­schrei­bun­gen, in denen er exem­pla­risch das Leben im La­ger schildert und das, was es aus den Menschen macht. Er distanziert sich von der "hu­ma­nis­ti­schen" Literatur des 19. Jahr­hunderts (na­ment­lich von Tolstoi) und for­dert eine neue, li­te­ra­tur­be­rei­nig­te Prosa. Inspiriert von der Ma­le­rei eines Gau­gin. "Zeit­ge­nös­si­sche Prosa kann nur in der per­sön­lichen Er­fah­rung ge­won­nen werden, wenn al­les Li­te­ra­rische, das die Haupt­sache stört, aus­ge­schie­den ist, wenn jedes abs­trak­te Urteil, die Me­ta­pher, der Stil und das mora­li­sche Postulat der strengs­ten per­sön­lichen Über­prü­fung un­ter­zo­gen sind." (S. 105)

Das Nachwort von Jörg Drews reflektiert die Be­din­gun­gen, das Unsagbare, das nicht Vor­stell­ba­re in Worte zu fas­sen. Ist eine Literatur nach Au­schwitz und dem Gulag noch sinnvoll, noch mög­lich? Scha­la­mow setzt dem seine la­ko­ni­sche Ethik entgegen, die die Wahrheit, die Wahr­haf­tig­keit, die Au­then­ti­zi­tät über alles stellt.

Die Herausgeberin hat einen An­mer­kungs­teil an­ge­fügt, in dem sie Personen und Be­grif­fe er­läu­tert, die den west­li­chen Lesern mög­licher­wei­se un­be­kannt sind.

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1. Kolyma ist ein Fluss in Ost­si­bi­rien, die Tem­pe­ra­tu­ren fallen auf bis zu 60° minus, weswegen die dor­ti­gen Lager nicht ein­ge­zäunt sind, eine Flucht wäre sinn­los und unmöglich. Bis 1987 gab es dort ein Sys­tem von Straf- und Arbeits­lagern, in de­nen Hun­dert­tau­sen­de nach Bo­den­schät­zen graben muss­ten. Die Ster­be­ra­te war enorm.

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10. Februar 2021

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