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Stewart O'Nan: Das Glück der anderen Stewart O'Nan
Das Glück der an­de­ren. Roman
Übersetzt von Tho­mas Gun­kel
Rowohlt Verlag 2001, 221 Sei­ten
ISBN 3-498-05028-1

Friendship in Minne­so­ta. Ein klei­ner Ort 6 Jah­re nach dem Bür­ger­krieg, in dem sich Ame­ri­ka­ner al­les an­ge­tan ha­ben, was sich Men­schen in ei­nem Krieg an­tun können. Ja­cob Han­sen war ei­ner von ih­nen. Jetzt ist er She­riff, Be­stat­ter, Pre­di­ger und Wei­de­auf­se­her in ei­ner Per­son. Er lebt mit sei­ner Frau Mar­ta und der klei­nen Toch­ter Ame­lia in ei­nem Haus mit Gar­ten am Rand der Stadt. Ei­nes Ta­ges wird ein to­ter Sol­dat ge­fun­den, kurz da­nach wird ei­ne kran­ke Frau zum Arzt ge­bracht, der bei bei­den Diph­the­rie [1] fest­stellt. Der Arzt und Han­sen sind sich des Ri­si­kos be­wusst, durch die Be­kannt­ga­be der hoch an­ste­cken­den Krank­heit ei­ne Pa­nik aus­zu­lö­sen, die zur wei­te­ren Aus­brei­tung, zu ei­ner Pan­de­mie füh­ren könn­te. Sie be­schlie­ßen vor­läu­fi­ges Still­schwei­gen.

Ein Haus, in dem sich meh­re­re In­fi­zier­te be­fin­den, wird unter Qua­ran­tä­ne gestellt, doch die Maß­nah­me erfolgt zu spät, die Krank­heit breitet sich weiter aus. Amelia zeigt erste Symp­to­me, wenig spä­ter auch Mar­ta. Dann steht fest, dass sich bei­de in­fi­ziert ha­ben, Im Ort gibt es weitere Todesfälle. Auch Ame­lia stirbt und wird im Gar­ten hinter dem Haus bei­ge­setzt, nie­mand soll es er­fah­ren, noch glaubt man, die Epidemie in den Griff zu bekommen.

Hansen hält am Sonntag für we­ni­ge Gläubige den Gottes­dienst ab, aber er ist nicht bei der Sa­che. Er hadert mit sich, mit seiner Un­ent­schlos­sen­heit ei­ne um­fas­sende Quarantäne zu er­las­sen, hofft auf Fes­tig­keit durch seinen Glau­ben. Die Kir­chen­glo­cken läuten in­zwi­schen fast unun­ter­bro­chen, ein Glo­cken­schlag für einen ver­stor­be­nen Mann, zwei für eine Frau und für je­des Lebens­jahr ei­nen wei­te­ren. Und es kom­men Nach­richten von einem Feu­er, das sich außer­halb der Stadt aus­brei­tet und zu einer wei­te­ren Bedrohung werden könn­te. Endlich, nach 20 wei­te­ren Toten, wird die Stadt unter Qua­ran­tä­ne gestellt. Hansen stellt an den Orts­grenzen ent­spre­chen­de Hinweise auf, ein She­riff der Nach­bar­ge­mein­de soll mit ihm ge­mein­sam ver­hin­dern, dass jemand die Stadt ver­lässt oder betritt.

Die Stimmung im Ort wendet sich gegen Hansen, man be­schmiert seine Haus­tür mit Kot, Schei­ben wer­den ein­ge­wor­fen, einige Be­woh­ner ver­su­chen zu flie­hen, weitere dür­fen ih­re Häuser nicht mehr ver­las­sen. Häuser, deren Be­woh­ner an der Seuche ge­stor­ben sind, wer­den ver­brannt, mit den Lei­chen, einmal sogar mit einer noch Lebenden, die man bei der vor­heri­gen Durch­suchung des Hauses übersehen hat. Doch die Situation es­ka­liert wei­ter. Marta stirbt, aber wenn Han­sen abends von seiner Ar­beit zu­rück­kehrt, ist alles wie­der gut. Amelia spielt auf dem Küchenboden, Marta putzt das Ge­mü­se, er spricht das Tisch­ge­bet vor dem ge­mein­sa­men Mahl.

Auch der Arzt hat sich infiziert und Hansen plant die Eva­ku­ie­rung der gesunden Be­woh­ner, denn das Feuer nä­hert sich schnell der Stadt. Pa­nik brei­tet sich aus, auch Er­krank­te ver­su­chen die Stadt zu verlassen, es kommt zu Gewalt bei dem Ver­such sie daran zu hindern. Die Qua­ran­tä­ne bricht zu­sam­men, hei­ße Asche erfüllt die Luft und senkt sich auf den Ort.

Hansen versucht, eine reli­giöse Ge­mein­schaft, die sich etwas au­ßer­halb des Ortes an­ge­sie­delt hat, dazu zu bewegen, mit den anderen die Stadt zu ver­las­sen, doch dort hat man sich da­zu ent­schieden, ge­mein­sam mit den Kran­ken be­tend zu ster­ben.

Immerhin etwa 30 Einwohner ver­sam­meln sich an den Glei­sen, um mit dem zu er­war­ten­den Zug dem Inferno zu ent­kom­men, doch die Sheriffs des Nach­bar­or­tes stellen sich ih­nen ent­ge­gen. Hansen er­schießt sie und weiß, er ist "der Ver­damm­nis anheim ge­fal­len".

Wieder zuhause begräbt er Mar­ta und Amelia (wer hatte sie vor­her wieder aus­ge­gra­ben?) und will sich vor dem Feu­er ret­ten, das inzwischen die Stadt vernichtet, indem er in der Mitte ei­nes asche­be­deck­ten Sees [2] die Flam­men über sich hin­weg ziehen lässt. Dann folgt er den Gleisen, auf de­nen zuvor der Zug die an­de­ren Bewohner in Sicherheit brin­gen sollte. Ihm wird klar, dass er derjenige gewesen ist, der der Seuche durch den Kon­takt zu dem toten Soldaten zur Aus­brei­tung ver­hol­fen hat. We­nig später stößt er auf die Über­res­te des Zugs und der ver­brann­ten Leichen, die der ra­sen­den Feuers­brunst nicht ent­kom­men konnten. Nach­dem er alle be­stat­tet hat, kehrt er zu­rück zu sei­nen To­ten.

Es sind fast biblische Sze­na­rien, die O'Nan über Jacob Han­sen kommen lässt. Und es ist der Glaube, die Fes­tig­keit im Glau­ben oder die Zwei­fel da­ran, die Hansen durch die Er­eig­nis­se be­glei­ten. Inspiriert wur­de der Ro­man von Michael Lesys Wis­consin Death Trip, das eine Sammlung von Pho­to­gra­phien aus dem späten 19. Jahr­hun­dert enthält. Über­wie­gend in Black River Falls auf­ge­nom­men, zeigen die Bil­der das har­te Leben der Land­bevölke­rung, das durch schwe­re Ar­beit, Krankheit und elendes Ster­ben geprägt ist. Warum der deut­sche Verlag den Titel "Das Glück der an­de­ren" gewählt hat, bleibt mir ver­schlos­sen, der Original­titel, "A Prayer for the Dying", ent­spricht der Kon­flikt­si­tua­tion des Pro­ta­go­nis­ten sehr viel mehr.

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1. Diphtherie ist eine an­ste­cken­de bak­te­riel­le Infektions­krankheit, die über die oberen Atemwege in den Kör­per eintritt.

2. In der Sprache der Dakota Sioux be­deu­tet Mnisota (woraus der Na­me des Staates Minnesota ab­ge­lei­tet worden sein soll) trü­bes Was­ser.

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6. Juli 2020

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