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Christine Lavant Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus Christine Lavant
Aufzeichnungen aus einem Ir­ren­haus
Herausgegeben und mit ei­nem Nach­wort ver­se­hen von An­net­te Stein­siek und Ur­su­la A. Schnei­der
Otto Müller Verlag 2001, 159 Sei­ten
ISBN 3-7013-1031-9

1935 lässt sich Chris­ti­ne La­vant, die da noch Christine Thon­hau­ser hieß, nach ei­nem miss­lun­ge­nen Sui­zid­ver­such in die Landes-Ir­ren­an­stalt in Kla­gen­furt ein­wei­sen, wo sie ei­ner Ar­sen­be­hand­lung un­ter­zo­gen wird. Mehr als 10 Jahre spä­ter ver­ar­bei­tet sie die sechs dort ver­brach­ten Wo­chen [1] li­te­ra­risch in diesen "Auf­zeich­nun­gen", die der letz­te Teil ei­ner au­to­bio­gra­phi­schen Tri­lo­gie (nach "Das Kind" (1948) und "Das Krüg­lein" (1949)) hät­te wer­den sol­len. Ihr damaliger Ver­le­ger, Vik­tor Kub­czak (Bren­ta­no­ver­lag), riet ihr aller­dings zu ei­nem anderen, from­men, Schluss, zu dem sie sich au­ßer­stan­de sah, wes­we­gen der Text un­ver­öffentlicht ge­blie­ben ist. Nora Wy­den­bruck, de­ren Über­setzung von "Das Kind" bereits in Eng­land er­schie­nen war, erhielt dann das Ma­nu­skript der "Auf­zeich­nun­gen", fand aber kei­nen Ver­le­ger dafür [2]. Inzwischen war je­doch das ohnehin leicht zu durch­schau­en­de Pseu­do­nym (der Ort, in dem sie auf­ge­wach­sen war, liegt im La­vant­tal), das sich Chris­tine Thon­hauser, ver­hei­ra­te­te Ha­ber­nig, zugelegt hat­te, be­kannt geworden, und sie er­such­te Nora Wy­den­bruck um Rück­sen­dung des Ma­nu­skripts, um ihre Familie durch ei­ne Ver­öf­fent­li­chung nicht dem Spott der Dorf­be­woh­ner aus­zu­set­zen. Die­se Rück­sen­dung ist jedoch nie er­folgt, so­dass das als ver­schol­len ge­gol­te­ne Ma­nu­skript Mitte der 90er Jah­re im Nach­lass der 1959 ver­stor­be­nen Nora Wy­den­bruck auf­tauch­te. 2001 er­schien es erstmals im Salz­bur­ger Otto Mül­ler Ver­lag.

Die Erzählerin gerät in Sta­tion zwei, was bei den Mit­in­sas­sen Miss­trau­en her­vor­ruft, da man ge­wöhn­lich zu­erst die Station drei zu durch­lau­fen hat. Sie be­müht sich, mit den Auf­fäl­lig­kei­ten und Be­son­der­hei­ten der an­de­ren Pa­ti­en­tin­nen zu­recht zu kom­men und Zugang zu ih­nen zu fin­den. Ihre La­ge ist be­schä­mend, da we­der sie selbst noch ih­re Familie für die Kos­ten der Un­ter­brin­gung auf­kom­men kann. Die wer­den von ih­rer Hei­mat­ge­mein­de ge­tra­gen. Sie be­kommt regel­mäßig Be­such von ih­rem Schwa­ger und fin­det mit der Zeit engeren Kon­takt zu anderen Pa­tien­tin­nen. Den­noch ist sie häufig ver­zwei­felt, weint und ver­sucht schrei­bend die Situation zu be­wäl­ti­gen. Sie re­gis­triert die Gleich­gül­tig­keit des Pfle­ge­per­so­nals ge­gen­über den Pa­tien­ten und unter diesen selbst. Zu­neh­mend auch an sich selbst. Aber es gibt Aus­nah­men und sie be­müht sich, der institutio­nellen und prak­ti­schen Gewalt, die sie täglich erlebt, ihr lie­be­vol­les Ver­ständ­nis ent­ge­gen­zu­set­zen. Mit der Zeit ima­gi­niert sie sich in eine Liebe zum "Pri­ma­rius", die ihr aber we­der Trost noch gar Er­lö­sung bringt. "Nicht das Le­ben ist ja wich­tig, nur das Er­leb­nis."

Der Text beschreibt die Beob­ach­tun­gen in einer ir­ri­tie­ren­den Um­ge­bung, die Suche nach Ver­trau­tem im Frem­den. Die Ver­su­che sich zu in­te­grie­ren [3], Be­zie­hun­gen an­zu­knüp­fen, Struk­tu­ren zu er­ken­nen und die Hier­ar­chi­en bei Patienten und Per­so­nal zu durch­schau­en, wer­den mit scharfem Blick und gro­ßer Empathie für ih­re Lei­dens­ge­nos­sin­nen formuliert. Die Be­schrei­bun­gen der ver­schie­de­nen Per­sön­lich­kei­ten, die sich ihr mit der Zeit er­schlie­ßen, sind prägnant und kor­res­pon­die­ren mit den wech­seln­den Be­find­lich­kei­ten ihrer selbst. Ein zu­tiefst be­rüh­ren­der, sti­lis­tisch eigen­williger Text, der weit über die Be­schrei­bung der da­ma­li­gen Zu­stän­de in psy­chia­tri­schen Ein­rich­tun­gen hi­naus zu den­ken gibt.

Das umfangreiche Nach­wort der bei­den Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin­nen er­läu­tert die Edi­tions­ge­schich­te des Tex­tes und gibt Aus­kunft über biogra­phische Daten, die in die­sem Zu­sam­men­hang rele­vant sind [4].

Im Zuge der Ver­öf­fent­li­chung ei­ner Werk­aus­ga­be von Chris­ti­ne La­vant erschienen auch die "Auf­zeichnungen" er­neut un­ter leicht ver­än­der­tem Titel ("Auf­zeich­nun­gen aus dem Ir­ren­haus", Wall­stein Ver­lag 2016), heraus­gegeben und mit ei­nem um­fang­rei­chen Nach­wort ver­se­hen von Klaus Amann.

Wenige Jahre nach La­vants Au­fent­halt in der An­stalt in Kla­gen­furt wur­de dort das na­tio­nal­so­zia­lis­tische Pro­gramm zur "Ver­nich­tung le­bens­un­wer­ten Le­bens" durch­ge­führt, dem mehr als 1500 Pa­tien­ten zum Opfer fie­len. Die betei­ligten Ärz­te waren Christine La­vant zum größten Teil durch ihren Au­fent­halt be­kannt.

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1. Vom 24. Oktober bis 30. No­vem­ber 1935.

2. Eine von ihr bearbeitete Über­setzung wurde als Funk­er­zäh­lung 1959 von der BBC ge­sen­det.

3. "Es ist gut verrückt zu sein unter Verrückten, und es wäre ei­ne Sün­de, ein geistiger Hoch­mut, so zu tun, als wäre ich es nicht." S. 64

4. Am 4. Juli 1915 in Groß-Edling bei St. Stefan als jüngstes von neun Kindern eines Bergarbeiters ge­bo­ren. Sie war Zeit ihres Le­bens von Krankheiten ge­plagt, besuchte nur wenige Jahre eine Schu­le. Be­kannt wurde sie vor allem ihrer Gedichte wegen. Sie starb am 7. Juni 1973 in ihrem Geburtsort.

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30. September 2020

Biographisches

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