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Ernst Jünger: Das Sanduhrbuch Ernst Jünger
Das Sanduhrbuch.
Vittorio Klostermann 1957, 262 Seiten
Illustrierte Sonder­aus­gabe mit 58 Strich­zeich­nungen und 33 Bild­tafeln

Das Buch gliedert sich in zwei Tei­le. Der erste wird be­stimmt durch Be­schrei­bun­gen der sich ent­wi­ckeln­den Zeit­mes­sung und durch Über­le­gun­gen zum We­sen der Zeit in den ver­schie­de­nen Epo­chen, er um­fasst knapp die Hälfte des Tex­tes. Um es vorweg zu nehmen, für mich war es der in­te­res­san­te­re Teil. Der zweite Teil stellt eine Kul­tur­ge­schich­te der Sanduhr dar mit Me­di­tationen zu die­ser ganz spe­ziel­len Form der Zeit­mes­sung.

Die Abschweifungen, die Jün­ger bereits im kur­zen, das The­ma einleitenden Ka­pi­tel er­wähnt, zu dem die Recher­chen ihn ge­führt haben, deh­nen sich zu ei­ner eigenen Stu­die über die Zeit und ihr Ver­hält­nis zu den Mes­sun­gen, mit denen man sie konkret er­fass­bar ma­chen wollte. Schon bald kon­sta­tiert Jün­ger, dass eine Be­schleu­ni­gung der Zeit statt­ge­fun­den hat, in je kür­ze­re Ein­hei­ten man sie zer­le­gen konn­te. Zu­nächst wird die Zeit durch Ent­fer­nun­gen ge­mes­sen. Schrit­te, Ta­ges­mär­sche, spä­ter Kut­schen­fahr­ten legten un­ge­fäh­re Raster über die Zeit, mit de­nen man sich ver­ständigen konn­te. Auch der Son­nen­stand mit seinem glei­ten­den Schat­ten­wurf be­wirk­te eine in be­stimm­ten Punkten sehr präzise Be­stim­mung der Zeit. "Noch heu­te befindet sich in der Kir­che von St. Sul­pice in Paris ein Gno­mon [1] zur Be­rech­nung des Os­ter­fes­tes, auf den das Licht durch eine klei­ne Süd­öff­nung fällt." [2]

Aus dem Orient kommt als nächs­ter Schritt und als Er­wei­te­rung des Gno­mons die Son­nen­uhr in den Ok­zi­dent. Jah­res­zeit­mä­ßig angepasst misst sie ver­lässlicher und führt zu ei­ner Vielzahl von Va­ri­an­ten bis hin zu Taschen- und Rei­se­son­nen­uh­ren.

Schon im alten Babylon kann­te man Was­ser­uh­ren (Sin­gu­lar: Klep­sy­dra [3]), die Jünger – wie die Sand­uh­ren – als tel­lu­ri­sche Zeit­mes­ser be­zeich­net, in de­nen die Schwer­kraft wirkt. Klep­sydren ver­brei­teten sich über das antike Grie­chen­land nach Eu­ro­pa und er­mög­lich­ten eine ge­naue­re Zeit­ein­tei­lung sowie eine Viel­zahl von mecha­ni­schen Raf­fi­nes­sen, teils spie­le­ri­scher, teils nütz­licher Art. [4]

Feueruhren, vor allem in Ge­stalt von Kerzen, mes­sen durch Material­ver­bren­nung die Zeit. Auch Öl- und Pe­tro­leum­lampen können diese Funk­tion er­fül­len, aber auch Lun­ten­uhren und Duft­stäb­chen fan­den Ver­wen­dung als Zeit­mes­ser.

Es erfolgt eine rück­bli­cken­de Betrachtung der Na­tur als ele­mentarsten Zeitmesser: Jah­res­zeiten, Tag und Nacht, Auf- und Nieder­gang der Gestirne usw. Es gab Blu­men­uh­ren, die sich diese Zyklen zu­nut­ze mach­ten.

Das siebte Kapitel ist eine Me­di­ta­tion über die un­ter­schied­li­chen Auf­fas­sun­gen der Zeit als zyk­lisch oder li­near, Zeit als Wie­der­kehr oder fort­schrei­tend. Die kos­mischen Uh­ren (wie Son­nen- oder as­tro­no­mi­sche Uhren) ste­hen im Ge­gen­satz zu den tellurischen (Was­ser-, Sand, Feuer-) Uhren, die an die Materie gebunden sind. Ob sich der Mensch als Teil der Zyklen be­greift oder auf dem Strahl der Zeit voran­schrei­tend, prägt nicht nur sei­ne Welt­sicht sondern auch sein Schicksal. [5]

Dann wendet sich Jünger den Rä­der­uhren zu [6], de­ren Ur­sprung er in ei­nem Kloster um das Jahr 1000 unserer Zeit­rech­nung sieht. "Die Rä­der­uhr ist we­der eine tellurische, noch eine kos­mi­sche Uhr. Sie ist ein drittes, ein geistiges Ge­schöpf, das we­der Ge­stirn-, noch Erd­zeit gibt. Abs­trak­te Zeit ist ih­re Ga­be, geis­ti­ge Zeit." [7] Sie ist die erste Ma­schi­ne, mit ihr be­ginnt die Au­to­ma­ti­sie­rung. Aber sie misst nicht nur Zeit, sie schafft [8] und be­schleu­nigt sie auch.

SanduhrenDie Sanduhr wird etwa zur sel­ben Zeit ent­wickelt wor­den sein wie die Rä­der­uhr. Im Un­ter­schied zu die­ser zeigt sie nicht die Uhr­zeit an, sie misst nur Zeit­span­nen, etwa die Län­ge eines Gebets oder ei­ner Pre­digt. Sie hat ih­ren Ort vor al­lem in Stu­dier­stu­ben, auf Kan­zeln und später bei der See­fahrt. Die Außenseite von Kir­chen zeigt die Räder­uhr, die im In­ne­ren keinen Platz hat.

Jünger beschreibt die Ent­wick­lung der Sand­uhr an­hand äu­ße­rer Ver­än­de­run­gen. Ma­te­rial, Bau­wei­se, Dauer der ge­mes­se­nen Zeit, Kon­sis­tenz und Zu­be­rei­tung des ver­wen­de­ten San­des. Kom­bi­na­tio­nen von meh­re­ren Sand­uh­ren, die unter­schied­li­che Zeitspannen mes­sen, Uhren, deren Glas eta­gen­förmig ge­bla­sen wur­de, um gleich­zei­tig unter­schied­liche Dau­ern anzeigen und viele Ver­su­che, die Span­nen bis hin zur Sekunden­ge­nau­ig­keit zu ver­kür­zen.

Es folgen Ausführungen über die Sand­uhr als Ge­gen­stand der Dichtung und der bil­den­den Kunst und hier besonders als To­des­symbol. Er kon­sta­tiert da­bei eine Ent­wick­lung von der Allegorie zum Kli­schee.

Abschließend vergleicht er: "Wir betrachten mit den Rä­der­uh­ren die ab­strakt-me­cha­ni­sche und mit der Sand­uhr die na­tür­lich-ele­men­tare Zeit." [9]

Gegen Ende des Bandes er­folgt ein Ausblick auf die Ent­wick­lung der Zeitmessung und der da­mit ver­bun­de­nen Wahr­neh­mung von Zeit [10], die mit den Lehren der Atom­phy­sik ein­ge­setzt hat. [11]

In einem Nachtrag äußert Jünger Gedanken, die sich seit dem Erscheinen der 1. Auf­lage des Sand­uhr­bu­ches – teils durch Mitteilungen von Lesern, teils durch nach­trägliche Infor­ma­tionen von an­de­rer Seite – ergeben ha­ben.

Sonderbares: "Das Rad kann nicht ohne Weg ge­dacht wer­den, aber auch der Weg nicht ohne Rad." [12] In den Hoch­kulturen Südamerikas fand das Rad vor dem Ein­drin­gen der Europäer aus­schließ­lich zu kul­tischen Zwe­cken Ver­wen­dung. We­ge wur­den da­mit nicht be­fah­ren.

"Das Segelschiff war eine ho­he Schule jenes männ­li­chen Le­bens, von dem die Jugend seit jeher ge­träumt hat und im­mer träumen wird." [13]

Erschreckendes: Die fort­ge­schrit­tene Tech­nik setzt – nach Jün­ger – Dä­mo­nen frei: "So ist, um ein Bei­spiel zu nen­nen, das bio­lo­gi­sche Wis­sen da­bei, dem phy­si­ka­li­schen in die­ser Hin­sicht den Rang ab­zu­lau­fen – wo­bei man nicht so sehr an die Ver­nich­tungsmittel zu denken braucht, als etwa an die künst­liche Befruchtung von Men­schen: einen der schwers­ten Tabu­brüche, die man er­sin­nen kann. Schon le­ben Zehn­tau­sen­de von vater­losen We­sen auf dieser Welt, bei deren Zeugung Liebe nicht mitwirkte. Sie werden die Henker von morgen sein. Die Schaffung ei­ner solchen Kaste geht weit über die antike Sklaverei hi­naus." [14]

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1. "Ein Gnomon ist ein senkrechter Gegenstand, et­wa ein Stab, des­sen Schat­ten als Sonnenzeiger dient." S. 25

2. S. 27. In Dan Browns Da Vinci Code spielt dieser Obe­lisk eine hin­weis­ge­ben­de Rolle.

3. "Das griechische Wort Klep­sydra bedeutet Wasser­steh­ler und spielt auf das un­merk­liche Ver­tröpfeln aus ei­ner Schale des Gerätes in die andere an." S. 35

4. "Erstaunliche Meister­wer­ke müs­sen die Kunstuhren des Ktesibios und seines Schülers Heron gewesen sein, die Vitruv beschreibt. Dieser Ktesibios führ­te im zweiten vor­christ­lichen Jahr­hundert eine Werkstatt in Ale­xandria. Be­rühmt vor allem war seine Jahresuhr, die in Form ei­ner Säule nicht nur die Monate, Wochen, Tage und Stun­den an­zeigte, sondern auch mannig­fache as­tro­no­mische Daten gab. Ein Amor, der an der Säule lehnte, ver­goß Tränen, als ob er die Zeit beweinte, die der Liebe ver­lo­ren­ging. Doch wurden diese Tränen nicht unnütz ver­gos­sen, denn sie hoben, durch feine Kanäle ge­lei­tet, all­mäh­lich die Figur eines anderen Knaben em­por, der mit einem Stab die Stunden an­zeigte. Von Zeit zu Zeit wur­den durch eine Öffnung Steine aus­ge­wor­fen, die in ein ehernes Be­cken fielen und durch den Klang die Stun­den an­ga­ben." S. 39f

5. "Die wiederkehrende und die fortschreitende Zeit spre­chen zwei Grund­stim­mun­gen des Men­schen, näm­lich Erinnerung und Hoff­nung, an. ... Während die Wie­der­kehr von außer­irdischen Mächten be­stimmt wird, ge­hört die Hoffnung, neben dem Selbstmord und den Trä­nen, zu den eigentlichen menschlichen Kenn­zeichen." S. 62

6. "Eine Geschichte des Rades könn­te sich lesen wie ein er­re­gen­der Roman. Wie aus der massiven Scheibe sich Nabe, Speichen und Rad­kranz bildeten, wie Has­pel-, Göpel-, Well-, Lauf-, Tret- und Spros­sen­rad ei­ner­seits, Spiralen-, Schnecken-, Schaufel-, Trommel- und Tur­bi­nen­formen an­de­rer­seits sich abzweigten: das stellt ei­ne Kette geistiger Aben­teuer dar. In solchen Reihen kommt auch zum Aus­druck, daß die Menschen­ge­schich­te im we­sent­lichen Geistes- und nicht Natur­geschichte ist, in welcher die rotierende Bewegung kaum eine Rolle spielt." S. 90

7. S. 71

8. "Wenn unsere Uhren nur Ma­schi­nen wären, die Zeit mes­sen, dann könnte die Ver­änderung nicht so be­deu­tend sein. Ein­schnei­dender ist die Tat­sache, daß sie Ma­schi­nen sind, die Zeit schaf­fen, die Zeit her­vor­brin­gen." S. 129

9. S. 224

10. "Welcher Uhren man sich bedient und welchen Wert man ihnen beimißt: darin verbergen sich wich­tige Hin­wei­se auf das Zeit­gefühl und Zeitbewußtsein, das Men­schen und Völker auf ihrem Wesens­grund belebt." S. 225

11. "Nicht die Bewegung von Rä­dern wird gemessen, son­dern Gewicht und Strahlung der Ma­te­rie. Insofern sind die neuen Uhren den alten Elementar- und Son­nen­uh­ren verwandter als der Rä­der­uhr." S. 226

12. S. 88

13. S. 165

14. S. 127

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13. Dezember 2020

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