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Tahar Ben Jelloun: Die Nacht der Unschuld Tahar Ben Jelloun
Die Nacht der Un­schuld
Aus dem Fran­zö­si­schen von Eva Mol­den­hauer
Rotbuch Verlag 1988, 170 Sei­ten
ISBN 3 88022 725 x

"Die Nacht der Un­schuld" schließt an den Roman "Sohn ih­res Va­ters" an, ist aber ein ei­gen­stän­di­ges Werk. "Sohn ih­res Vaters" be­schreibt Kind­heit und Jugend von Ah­med, der, als achte Tochter ge­bo­ren, von sei­nem Vater zum Sohn er­klärt wird und für­der­hin das Le­ben eines Jungen führt. Schließ­lich hei­ra­tet er sogar.

"Die Nacht der Unschuld" be­ginnt am Ster­be­bett des Va­ters, der ihm freistellt, zu­künf­tig als Frau (Zahra) zu leben. Sie ver­lässt die Familie, wird in einem Wald von ei­nem Mann ver­folgt, der sie pe­ne­triert, was sie ohne Ge­gen­wehr ge­sche­hen lässt, und lan­det in einem Ha­mam [1], des­sen über­ge­wich­ti­ge und häss­liche Leiterin sie zu sich nach Hause einlädt. Dort lebt sie mit ihrem Bru­der, Konsul ge­nannt, einem blinden Ko­ran­leh­rer, dem Zahra fortan die­nen soll. Mit der Zeit lernt der Kon­sul Zahra als Ge­sprächs­part­ne­rin schät­zen und verteidigt sie gegenüber den Schi­ka­nen sei­ner Schwes­ter. Als der Kon­sul wie­der einmal ein Bordell be­sucht, zu dem er sonst von sei­ner Schwes­ter be­glei­tet wird, übernimmt Zah­ra diese Auf­ga­be. Sie be­schreibt ihm die an­we­sen­den Pros­ti­tu­ier­ten, der Kon­sul wählt eine der Frau­en aus, die von Zahra je­doch aus dem Zimmer ge­schickt wird, um sich dann selbst zu ent­klei­den und dem Kon­sul hin­zu­ge­ben.

Als die Schwester bemerkt, dass sie immer mehr an den Rand gedrängt wird, beginnt sie Nach­for­schun­gen an­zu­stel­len und stößt auf das Ge­heim­nis von Ahmed/Zahra. Ei­nes Ta­ges steht sie mit einem miss­günstigen Bruder des ver­stor­be­nen Vaters vor dem Haus und der Onkel be­schul­digt Zahra des Dieb­stahls. Die­se erschießt den Onkel und wird zu einer 15­jäh­ri­gen Ge­fäng­nis­stra­fe ver­ur­teilt. In ih­rer Zelle lebt sie in Dun­kel­heit und legt sich zu­sätz­lich noch eine Augen­bin­de um, um der Welt der Blin­den nä­her zu sein [2]. Der Kon­sul be­sucht sie re­gel­mäßig.

Dann tauchen fünf ihrer sie­ben Schwestern auf und neh­men an ihr gewaltsam eine Be­schnei­dung vor. Die Kli­toris wird ent­fernt, die Scham­lip­pen ver­näht. Sie über­lebt nur knapp.

Nach langen Jahren der Haft, der Konsul ist nach dem Tod sei­ner Schwester an einen an­de­ren Ort gezogen, wird Zahra aus dem Gefängnis ent­las­sen. Sie wandert nach Sü­den, ans Meer, wo sie ein vi­sio­nä­res Erlebnis hat. Nebel um­hüllt sie, sie ist nackt, am Ho­ri­zont ein weißes Haus. Be­ten­de Men­schen in den Räu­men, unter ihnen die Schwes­ter des Kon­suls, die sie begrüßt ("End­lich bist du da!"). Ein Heiliger betritt den Raum, die Menge drängt sich an ihn, will ihn be­rüh­ren. Auch Zahra nähert sich dem dunkel be­brill­ten Mann, in dem sie den Konsul erkennt. "Als ich dem Heiligen ge­gen­über­stand, kniete ich nie­der und nahm sei­ne aus­ge­streck­te Hand; doch statt sie zu küs­sen, leckte ich sie und saug­te an jedem ih­rer Finger. Der Hei­li­ge ver­such­te sie zu­rück­zu­zie­hen, aber ich hielt sie mit bei­den Hän­den fest." [3] Sie gibt sich ihm zu er­ken­nen. Er: "End­lich sind Sie da!"

"Ich dachte, daß zwischen Le­ben und Tod nur ei­ne sehr dün­ne Schicht aus Nebel oder Finsternis ist, daß die Lüge zwi­schen der Wirklichkeit und dem Schein Fäden spann, da die Zeit nur eine Il­lu­si­on un­se­rer Ängste ist." [4]

Zahra lebt in einem Zwi­schen­reich. Man ist sich sel­ten si­cher, dass das Geschilderte kei­ne Phan­tas­ma­go­rien sind, sie lebt in einer hallu­zi­na­to­ri­schen Wirklichkeit. "Das führt uns zu un­se­ren mys­ti­schen Dich­tern zurück, für die die äu­ße­re Er­schei­nung die per­ver­ses­te Maske der Wahr­heit ist." [5] Stilistisch chan­giert der Text vom Ton ei­nes Ge­schich­ten­er­zäh­lers auf dem Markt zur au­to­bio­gra­fi­schen Re­chen­schaft. Zahras/­Ah­meds ge­schlecht­li­che Identität ist eben­so am­bi­va­lent wie ih­re Po­si­tion in Familie und Ge­sell­schaft. "Ich war der Mann und die Frau zugleich, bald ein von Gnade und Liebe er­füll­ter En­gel, bald ein rä­chen­des und mitleidloses Ge­wit­ter. Ich war die Mu­sik­no­te und das Instrument, die Lei­den­schaft und das Lei­den." [6]

Die fünf Schwestern tauchen zwei­mal in ihrer Zel­le auf [7]. Beim zweiten Mal als "fana­ti­sche und brutale Mos­lem­schwes­tern" [8], die sie ge­walt­sam beschneiden. Da es nur fünf der sie­ben Schwes­tern sind, vermute ich einen Hin­weis auf die 5 Säu­len des Islam, die die Missachtung weib­li­cher Rechte sym­bo­li­sie­ren sollen.

Tahar Ben Jelloun wurde 1947 in Marokko ge­bo­ren, emi­grier­te aber 1971 nach Frankreich, wo er seit­her lebt und pu­bli­ziert. 1987 bekam er für "Die Nacht der Unschuld" (La Nuit sacreé) den Prix Goncourt verliehen, seit 2006 ist er Mitglied in der Académie Goncourt, die die Preisträger be­stimmt. Über­setzt wurde der Text von der mehr­fach aus­ge­zeich­ne­ten, in­zwi­schen ver­stor­benen Eva Mol­den­hauer.

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1. Ein öffentliches Badehaus.

2. "Ich bat um Dunkelheit, und sie wurde mir schließlich ge­währt. Ich zog es vor, in einer ein­far­bi­gen Fläche zu leben, mich an dieses fla­che Areal zu ge­wöh­nen, an diese gerade Li­nie, auf der ich ging; nach und nach drang ich in die alltägliche Welt derer ein, die des Au­gen­lichts beraubt sind, so wie ich der Frei­heit be­raubt war. Ich lebte mit ge­schlos­se­nen Au­gen. Ich gebe zu, daß es mir schwerfiel, mich da­ran zu ge­wöh­nen. Zur grö­ße­ren Sicher­heit hatte ich mir die Au­gen ver­bun­den. An diesem elen­den Ort gab es nicht nur nichts zu sehen, es war auch mei­ne Art und Wei­se, dem Kon­sul nahe zu sein." S. 130

3. S. 169f

4. S. 169

5. S. 121

6. S. 131

7. Beim ersten Mal: "Ich kann heu­te unmöglich sagen, ob es eine Vi­sion, ein Alptraum, eine Hallu­zination oder Wirklichkeit war; ich be­wah­re eine präzise und leb­haf­te Erinnerung an die Einzelheiten, aber ich ver­mag weder den Ort noch die Zeit zu bestimmen." S. 139

8. S. 141

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24. Januar 2021

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