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John Glassie: Der letzte Mann, der alles wusste John Glassie
Der letzte Mann, der al­les wuss­te
Das Leben des ex­zen­tri­schen Genies Atha­na­sius Kircher
Berlin Verlag 2013, 350 Sei­ten
ISBN 978-3-8270-1173-2

Athanasius Kircher (1602 – 1680) war schon zu Leb­zei­ten um­strit­ten. Viele sahen ihn als ei­nen Uni­ver­sal­ge­lehr­ten, des­sen Wis­sen un­be­grenzt schien. An­de­re hiel­ten ihn für ei­nen Blen­der und Schar­la­tan. Er er­hielt Unter­stüt­zung aus den höchs­ten Krei­sen des Kle­rus und manches Kö­nigs­haus ließ sich von ihm be­ra­ten. Auch der jun­ge Leib­niz be­wun­der­te ihn und frag­te ihn um Rat [1].

Kircher wurde in der Rhön ge­bo­ren und trat 1618 dem Je­sui­ten­or­den bei, ar­bei­te­te nach dem Stu­dium der Phi­lo­so­phie und Theo­logie als Leh­rer für Ma­the­ma­tik, Hebräisch und Sy­risch. Den Wir­ren des Drei­ßigjäh­ri­gen Krieges ent­floh er nach Frank­reich, spä­ter nach Rom ans Colle­gium Ro­ma­num, an dem er viele Jahr­zehnte lehr­te und forsch­te.

Sein Forschungsdrang kannte kaum Grenzen. Er wid­me­te sich der Ent­zif­fe­rung der Hie­ro­gly­phen, dem Magne­tis­mus, der Mathe­matik, der Astro­no­mie, der Me­di­zin, der Geo­gra­phie und ei­ner Viel­zahl wei­te­rer The­men. Und jedes Mal ent­stand dar­aus ein umfang­rei­ches Druck­er­zeug­nis, das nicht sel­ten auf­wän­dig il­lus­triert war und weite Ver­brei­tung fand. In sei­ner "Eks­ta­ti­schen Rei­se" [2] se­hen wir ihn als ei­nen Vor­läu­fer der spä­te­ren Science-Fic­tion-Li­te­ra­tur, und er ar­bei­te­te an dem Ent­wurf einer Uni­ver­sal­spra­che. Er ver­öf­fent­lich­te Wer­ke über die Arche Noah [3] und den Turm zu Ba­bel, die eu­ro­pa­weite Be­ach­tung fan­den. Er ent­wi­ckel­te ein Sys­tem zur Über­tra­gung geheimer Bot­schaf­ten, ent­warf ei­ne Ap­pa­ra­tur für mu­si­ka­lische Kom­po­si­tio­nen und eine für mathe­ma­ti­sche Be­rech­nun­gen, ein Per­pe­tu­um mobile wur­de in An­griff ge­nom­men aber nicht voll­en­det. Daneben gründete und be­stück­te er das Mu­se­um Kir­cher­ianum, wo es unter an­de­rem den Schwanz ei­ner Meer­jung­frau zu sehen gab, und das für Rom­besucher ei­ne Sehens­wür­dig­keit der be­son­de­ren Art dar­stell­te [4].

Kirchers Werke sind eine Mi­schung aus Be­ob­ach­te­tem und Spe­ku­la­ti­vem, in vielem spie­gel­ten sie den Geist der Zeit, in man­chem gin­gen sie da­rü­ber hin­aus. Und so ab­surd man­ches nach­träglich be­trach­tet auch er­schei­nen mag, so hat er doch Spu­ren hin­ter­las­sen, die zum Teil noch heu­te wir­ken. Oh­ne sei­ne Ar­bei­ten über die kop­ti­sche Spra­che wäre Jean-Francois Cham­pollion hun­dert­fünfzig Jah­re spä­ter wo­mög­lich nicht in der La­ge ge­we­sen, die Hie­ro­gly­phen auf dem Stein von Rosette zu ent­zif­fern, was den Be­ginn ei­ner neuen Ära in der Ägyp­tologie be­deu­te­te. Kir­cher war ei­ner der Ersten, der ein Mi­kros­kop zur Er­for­schung von Krankheiten be­nutz­te und sei­ne Stu­dien zur Magie und Mys­tik finden noch heu­te in eso­te­ri­schen Krei­sen ihren Nach­hall [5]. Nicht zu­letzt ist sogar ein Mond­kra­ter nach ihm be­nannt [6].

In seinen letzten Le­bens­jah­ren ver­blass­te aller­dings sein Ruhm, die wei­te­re Er­for­schung der Welt hat­te sein Werk in den Hin­ter­grund ge­drängt. Er ver­such­te dem ent­ge­gen zu wir­ken, in­dem er sei­ne Auto­bio­gra­fie ver­fass­te, die aber erst pos­tum ver­öf­fent­licht wer­den konn­te. Die Nach­welt sieht ihn vor allem als ge­nia­len Schar­la­tan, als Ku­riosum der Wis­sen­schafts­ge­schich­te. Aber hat nicht auch Newton, dem wir grund­le­gen­de Er­kennt­nisse der Na­tur­wissen­schaf­ten ver­dan­ken, sich ebenso intensiv – theo­retisch und praktisch – mit Al­che­mie befasst und anderen, heute als fragwürdig er­kann­ten, Theo­rien an­ge­hängt? [7]

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1. "Nicht ohne Grund meinte Paula Findlen: »Prak­tisch je­des grö­ßere wis­sen­schaft­liche, lin­guis­tische und his­to­ri­sche Pro­jekt, das er sich vornahm, war direkt durch die Lek­tü­re von Kirchers Werken in­spi­riert.«" S. 243

2. Itinerarium extaticum (1656)

3. "... um die genauen Maße der Arche zu bestimmen, die Noah laut der Bibel von Gott erhalten hatte, ver­glich Kir­cher die vor­han­de­nen Be­rich­te in Hebräisch, Chal­däisch, Arabisch, Syrisch, Latein und Grie­chisch. Mit­hilfe von Ga­li­leis Studien über schwim­mende Körper be­rech­ne­te er den Auftrieb der Arche und entwarf ein aus­klapp­bares Blatt, auf dem ge­zeigt wurde, wo die einzelnen Tie­re unter­ge­bracht waren." S. 259

4. "In der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahr­hun­derts wa­ren in ganz Europa Ra­ri­tä­ten- oder Ku­rio­si­tä­ten­ka­bi­net­te in Mode ge­kom­men, die sich später zu den Wun­der- oder Kunst­kammern des Ba­rock ent­wickelten." S. 171

5. Besonders das in den Jahren 1652 bis 1654 in drei Bän­den er­schie­ne­ne Oedipus Aegyptiacus.

6. Der Krater wurde 1935 offiziell nach Kircher benannt.

7. "Über die Hälfte aller schrift­lichen Äußerungen New­tons be­schäf­tigt sich mit Theo­logie und Religion, au­ßer­dem hat er mehr als eine Mil­lion Wörter über al­che­mistische Themen notiert." S. 284

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26. Juli 2020

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