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Autoren Glossen Lyrik

Carlos Maria Dominguez: Das Papierhaus Carlos Maria Dominguez
Das Papierhaus.
Aus dem Spanischen von Elisabeth Müller
Eichborn Verlag 2004, 93 Seiten
ISBN 3-8218-5730-7

Bluma Lennon, Pro­fes­so­rin für Li­te­ra­tur an der Universität Cam­bridge, überquert ei­ne Stra­ße, vertieft in die Lyrik Emily Dickin­sons. Dabei wird sie von ei­nem Auto erfasst und tödlich ver­letzt. Der Er­zäh­ler soll sie ver­tre­ten bis die Nach­folge­fra­ge ge­klärt ist. Kurz danach wird ein Päck­chen für Blu­ma ge­lie­fert, das der Er­zäh­ler öff­net. Es ent­hält eine Ausgabe von Joseph Con­rads "Die Schat­ten­li­nie" (1946 bei Emecé in Buenos Aires in der Reihe La puerta de marfil [1] erschienen) mit einer Widmung Blumas an ei­nen Carlos mit der Orts­an­ga­be Monterrey. Kein Be­gleit­schrei­ben, kein Ab­sen­der, die Brief­marken weisen auf Uru­guay. Das Buch ist in mi­se­rablem Zustand, Ze­ment­par­ti­kel verkleben die Seiten.

Der Erzähler, der auch Blu­mas Liebhaber ge­we­sen ist, möchte mehr über Carlos erfahren und be­ginnt Nach­for­schun­gen. In Mon­ter­rey hatte ein Kon­gress statt­ge­fun­den und in Blumas Auf­zeich­nun­gen stößt er auf die Namen zweier Teil­neh­mer, die er an­schreibt; einer er­wähnt einen Bi­blio­philen mit Namen Carlos Brauer, den er mit Blu­ma eines abends habe davon gehen sehen.

Als der Erzähler während der Se­mes­ter­fe­rien sei­ne Mutter in Bue­nos Aires besucht, be­schließt er, seine Nach­for­schun­gen in Uruguay fort­zu­set­zen, er reist nach Mon­tevi­deo. Der Antiquar Jor­ge Dinarli lie­fert ihm ein Psycho­gramm Brauers ("... pas­sio­niert und im­stan­de, einen Hau­fen Geld für ein be­stimm­tes Buch aus­zu­ge­ben, um für Stunden darin zu versinken und nichts an­de­res zu tun, als es zu studieren und zu ver­ste­hen." [2]) und verweist ihn an Agustin Del­gado, der Brauer viel näher ge­stan­den habe als er selbst.

Delgado ist ein pedantischer Samm­ler [3], der Brauer als ei­nen halt- und maßlosen Bib­lio­ma­nen be­schreibt, der sein ge­sam­tes Geld für Bü­cher aus­ge­ge­ben hat. Sein Haus quoll über von Bü­chern [4], der fi­nan­ziel­le Ruin war nicht mehr auf­zu­hal­ten. Nachdem ein Brand sei­nen um­fang­rei­chen und nach irrwitzigen Kriterien sor­tier­ten Ka­ta­log ver­nich­tet, ver­kauft Brauer sein Haus und reist nach Mexiko. Dort – in Monterrey – nimmt er an einem Schrift­stel­ler­kongress teil, wo­rü­ber er später Delgado berichtet: "Ich habe ei­ne sehr hübsche eng­li­sche Dozentin ken­nen­ge­lernt, das war das beste. Eine von diesen feu­ri­gen, von sich überzeugten Aka­de­mi­ke­rin­nen, die für jede Lebenslage ein literarisches Zitat pa­rat haben und sich, wenn ihnen ihr Stündlein schlägt, am liebs­ten Emily Dickinson le­send über­fah­ren lassen wür­den." [5]

Später erfährt Delgado, dass Brauer in der La­gu­ne von Rocha ein Grund­stück ge­kauft hat, wohin er die ca. 20.000 Bände seiner Bi­blio­thek liefern ließ, um sie als Ma­te­ri­al für ein Haus ver­bau­en zu lassen.

Der Erzähler sucht ihn auch dort, findet aber nur noch die Rui­ne des Papierhauses vor, Brauer selbst ist spurlos ver­schwun­den. Fischer, die der Er­zäh­ler befragt, berichten da­von, dass Brauer ei­nes Tages damit begonnen hatte, die Wände des Hauses mit einem schweren Hammer zu be­schä­di­gen. Offenbar auf der Suche nach einem ganz bestimmten Buch. Als er es schließlich ge­fun­den hatte, verschwand er, keiner weiß wohin.

Dominguez [6] variiert die häu­fig unter Bi­blio­phi­len ver­wen­de­te Phrase "Habent sua fata libelli" (Bü­cher haben ihre ei­ge­nen Schicksale) [7] gleich mehr­fach: "Bücher ver­ändern das Schick­sal der Menschen" [8] und "Die Menschen ver­än­dern auch das Schicksal der Bücher" [9].

Die Reise des Erzählers wird auf einer aus­klapp­ba­ren Karte auf Transparentpapier dar­ge­stellt, der Einband des Bu­ches hat eine feine Holz­struk­tur, was die Lektüre auch haptisch zu einem Ge­nuss macht.

Zitat: "Tatsache ist, daß letzt­lich der Umfang ei­ner Biblio­thek zählt. Wie ein rie­si­ges offenes Ge­hirn wird diese nämlich unter faden­schei­nigen Ent­schul­di­gun­gen und falscher Be­schei­den­heit zur Schau ge­stellt. Ich kannte mal einen Pro­fes­sor für klassische Phi­lo­lo­gie, der die Zu­be­rei­tung des Kaffees in seiner Küche ab­sicht­lich in die Län­ge zog, um dem Gast Ge­le­gen­heit zu geben, sei­ne Bücherregale zu be­wun­dern. Erst wenn das ge­schehen war, kehrte er befriedigt lächelnd mit dem Tablett ins Wohnzimmer zu­rück.
Wir Leser spionieren die Bücher­schränke un­se­rer Freun­de aus und sei es zur Ab­len­kung. Weil wir ein Buch ent­decken könnten, das wir lesen wol­len und nicht besitzen, oder weil wir einfach wis­sen wollen, was das Tier, das wir vor der Na­se haben, in sich hinein­gefressen hat. Wenn wir ei­nen Kollegen allein im Wohn­zimmer sitzen las­sen, steht er bei unserer Rückkehr garantiert vor dem Bücher­regal und schnuppert darin herum." S. 17f

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1. Herausgegeben von Borges und Bioy Casares

2. S. 26

3. "Diese Bücher­wände hier sind aus Lapacho-Holz ge­fer­tigt, ein Holz, das weder Risse noch Spalten auf­weist, so daß sich kein Un­ge­zie­fer einnisten kann. Die Re­ga­le sind eine Sonder­an­fertigung und bestehen aus zehn Hart­holz­schich­ten, mit einem in­sek­ten­ab­wei­sen­den Kleb­stoff ver­leimt. Ich habe sie mit Glastüren ver­se­hen, weil Bücher ja be­kannt­lich Staub anziehen. Ab und zu lasse ich sie trotzdem vorsorglich aus­räu­chern, man kann nie wis­sen." S. 38

4. "Irgendwann hatte er so viele Bü­cher – über zwan­zig­tau­send, glau­be ich –, daß er die Bücher­regale in sei­nem keineswegs klei­nen Wohn­zimmer quer stellen muß­te wie in einer öffentlichen Bücherei. Sogar im Bad standen an allen Wänden Bücher, und sie sind ihm nur deshalb erhalten geblieben, weil er kein war­mes Wasser mehr laufen ließ, um den Dampf zu ver­mei­den. Er duschte kalt, im Sommer wie im Winter." S. 40

5. S. 60f

6. 1955 in Buenos Aires geboren, lebt seit 1989 in Mon­te­vi­deo. Schrift­steller, Jour­nalist, Literatur­kritiker.

7. Vollständig übrigens: Pro captu lectoris habent sua fata libelli (Je nach dem Verständnis des Lesers ha­ben Bücher ihre eigenen Schick­sale). (Aus: Teren­tianus Maurus (lateinischer Grammatiker, Ende des 2. Jahrhunderts) "De litteris, de syllabis, de metris.")

8. S. 7

9. S. 71

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8. Januar 2021

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