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Deborah Dixon: Der Mona Lisa Schwindel Deborah Dixon
Der Mona Lisa Schwin­del.
Aus dem Nachlass ediert, aus dem Ame­ri­kanischen über­setzt und samt einem Nach­wort von Werner Fuld
Eichborn Verlag 2011, 318 Sei­ten
ISBN 978-3-8218-6245-3

Der Plot scheint be­kannt: Je­mand stöbert im Nach­lass ei­nes ver­stor­benen Freun­des und stößt dabei auf ein Ge­heim­nis, das – sollte es ge­lüf­tet werden – auf­se­hen­er­re­gen­de und nicht sel­ten skan­da­lö­se Er­kennt­nisse zu Ta­ge tre­ten las­sen würde. In un­se­rem Fall ist dieser Je­mand je­doch De­bo­rah Dixon, eine re­nom­mier­te Kunst­his­to­ri­ke­rin des Metro­po­li­tan Museum of Art, de­ren ver­stor­be­ne Freun­din Laura ihr Tage­bü­cher und Auf­zeich­nun­gen hin­ter­las­sen hat, die Un­glaub­li­ches be­haup­ten. Laura war die Gat­tin Eduar­do de Val­fiernos, ei­nes zwie­lich­ti­gen Kunst­händlers, der 1911 in den spek­ta­ku­lärsten Kunst­raub der neu­e­ren Zeit ver­wickelt ge­we­sen ist.

Am Montag, den 21. August 1911, ver­schwin­det die welt­be­rühm­te Mona Lisa [1] aus dem Louv­re, ent­deckt wird der Dieb­stahl einen Tag spä­ter, der Mon­tag ist der Ruhe­tag des Mu­seums, Besucher ha­ben kei­nen Zutritt zu den Aus­stel­lungs­räumen. Ei­ne hek­ti­sche Fahn­dung be­ginnt, in deren Ver­lauf auch Apol­linaire und Picasso in Ver­dacht ge­ra­ten [2]. Die feh­len­den Sicher­heits­vor­keh­run­gen [3] und der schlam­pi­ge Umgang mit den Aus­stel­lungs­stü­cken werden auf­ge­deckt und an­ge­pran­gert. Nach zwei­ein­halb Jah­ren mel­det sich der ehe­ma­li­ge Glaser Vincenzo Pe­rug­gia bei einem ita­lie­ni­schen Kunst­händ­ler und bietet ihm die Mona Lisa zum Kauf an. Der informiert die Po­li­zei, Pe­rug­gia wird ver­haf­tet, zu 7 Mo­na­ten Ge­fäng­nis ver­ur­teilt, die Mona Lisa kehrt ei­ni­ge Mo­na­te später in den Louvre zurück.

Soweit die offizielle Version. Aber ist das auch die Wahr­heit? Hat es sich so zu­ge­tra­gen? Lau­ra de Valfierno weiß es besser und Deborah Dixon fin­det ihre Angaben – nach an­fäng­li­chem Zögern und in­ten­si­ver Recherche – be­stä­tigt. Denn der ei­gent­li­che Coup des Ver­bre­chens war nicht der Dieb­stahl der Mo­na Lisa, der war nur der Aus­lö­ser für etwas viel Raf­fi­nier­te­res.

Valfierno hatte durch den Kunst­fäl­scher Yves Chau­dron vier Kopien der "Gio­con­da" (oder La Jo­con­de, wie die Mona Lisa auch ge­nannt wur­de) anfertigen las­sen, die er an reiche Kunst­samm­ler ver­kau­fen wollte. Da keiner die­ser Samm­ler mit dem Er­werb des Bil­des an die Öf­fent­lich­keit tre­ten könn­te, es handelte sich schließ­lich um Heh­ler­wa­re, be­stand kaum Ge­fahr, dass der Schwin­del auffliegen wür­de. Das Ori­gi­nal behielt er selbst.

Wenn es so gewesen ist, was hängt jetzt im Louv­re? Eine Ko­pie! Angefertigt von ei­nem beim Mu­seum an­ge­stell­ten Ko­pis­ten [4]. Pe­rug­gia [5], der an­geb­li­che Dieb, wur­de zu sei­nem Ge­ständ­nis erpresst, da man ihm die Be­tei­li­gung an einer De­mon­stra­tion nach­wei­sen konnte, bei der ein Po­li­zist ums Le­ben ge­kom­men war [6].

Das Buch ist eine Collage aus dem Ent­wurf ei­nes Dreh­buchs, an dem Erich Ma­ria Remarque und Orson Wel­les im Herbst 1942 ge­ar­bei­tet ha­ben, das je­doch nie fer­tig gestellt wor­den ist, und den akribischen Re­cher­chen von Deborah Dixon. Es ist amü­sant, spannend und lehr­reich, da es Hin­ter­grün­de des Kunst­han­dels und ei­ni­ger Bio­graphien erwähnter Per­so­nen erhellt. Die Pro­ve­nienz des Gemäldes wird kri­tisch hinter­fragt, die Dis­kus­sion zur Iden­ti­tät der dar­ge­stell­ten Frau wird ebenso aus­führ­lich be­han­delt wie die Arbeits­me­tho­den in der Werk­statt Leo­nar­dos.

Aber natürlich gibt es Zwei­fel an den Er­kennt­nis­sen De­borah Dixons, ist der Mo­na Lisa Schwin­del selbst ein Schwin­del? Werner Fuld, dem das Ma­nu­skript des Bu­ches nach dem Tod der Au­to­rin an­ge­bo­ten worden ist, trat in der Ver­gan­gen­heit als Her­aus­ge­ber eines Lexikons der Fäl­schungen in Er­schei­nung [7], Or­son Welles dreh­te 1973 F for Fake [8], eine Zu­sam­men­ar­beit mit Erich Ma­ria Re­marque ist nicht ver­bürgt, und wer war Yves Chau­dron, der vermeintliche Fäl­scher [9]? Wo sind die vier Kopien ge­blie­ben, die er an­ge­fer­tigt ha­ben soll, wer wa­ren die Käu­fer [10]? Und wür­de man Deborah Dixon ken­nen, wenn man im Me­tro­politan Museum of Art nach ihr fragen würde? Fuld in seinem Nach­wort: "Die Rea­li­tät wird so ge­bro­chen, dass sie ih­re Ein­deu­tig­keit ver­liert, aber nichts von ihrer Wirk­lich­keit einbüßt." (S. 316)

Sei es wie es sei: Tatsache ist, dass sich die Lei­tung des Lou­vre bisher standhaft ge­wei­gert hat, die Mona Lisa mit wis­sen­schaft­lichen Me­tho­den un­ter­su­chen zu las­sen, um den Verdacht zu ent­kräf­ten, dass es sich bei dem aus­gestellten Bild um ei­ne Fäl­schung han­delt.

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1. "Doch gerade dieses Fehlen al­ler Charakteristika, die­se selt­sa­me Ent­in­di­vi­dualisierung konn­te sie zum Ty­pus des un­er­gründ­li­chen weib­lichen We­sens schlecht­hin ma­chen – aller­dings erst, seit in der Mit­te des 19. Jahr­hun­derts durch die Ro­man­tik ein neues Frauen­bild ent­stand. In den vier Jahr­hun­der­ten davor war das Gemälde na­he­zu un­be­kannt und wurde auch von Kunst­kennern nicht ge­schätzt." S. 135

2. Picasso war im Besitz von zwei aus dem Louvre ge­stoh­le­nen ibe­rischen Statuen, die er von dem Dieb Géry Pieret ge­kauft hatte, der wiederum mit Apol­li­naire gut be­kannt ist. Im an­schlie­ßen­den Pro­zess, in dem sich Apollinaire und Pi­cas­so gegen­seitig be­las­ten, wird je­doch klar, dass sie mit dem Raub der Mona Lisa nichts zu tun haben.

3. "Es fehlten einhundert­drei­und­zwan­zig Bilder und Kunst­ge­gen­stän­de", wie man bei ei­ner Re­vi­sion fest­stellte. S. 140

4. Frederic Auguste La­guil­ler­mie (1841 – 1934), Ko­pist und Gra­veur. "Laguillermie hat die Ta­fel in ge­rahm­tem Zustand über­malt, also wohl in jenem Rah­men, mit dem sie aus dem Ma­ga­zin kam. Man sieht das, weil um die ganze Tafel herum ein fast ein Zen­ti­me­ter breiter Rand verläuft, der von einem Wulst aus Far­be begrenzt wird. Aus zeit­genössischen Ko­pien weiß man, dass das Porträt der Mo­na Lisa ur­sprüng­lich von zwei Säulen der Loggia ein­ge­rahmt war. Bei ei­ner späteren Ein­pas­sung in einen Rahmen wur­de die Tafel seitlich be­schnit­ten, so dass die Säulen weg­fie­len. Durch die Farbwülste wird jedoch deutlich, dass die Ta­fel, die heute noch im Louvre hängt, nicht be­schnit­ten ist, son­dern eine Kopie des Zu­stan­des von 1911 darstellt." S. 181

5. Vincenzo Peruggia (1881 – 1925) war eine Zeit lang als Gla­ser im Louvre angestellt, kann­te also die Ört­lich­kei­ten bes­tens. Er soll als Einzel­täter ge­han­delt ha­ben und das Ge­mäl­de 2 Jahre lang in sei­ner Kam­mer verborgen haben. Die Po­li­zei hatte ihn schon kurz nach der Tat befragt, ihn aber nicht für verdächtig ge­hal­ten. Schließ­lich soll er das Bild ei­nem ita­li­e­nischen Kunst­händ­ler an­ge­bo­ten haben, der da­rauf­hin die Po­li­zei verständigte. Im Pro­zess gab er als Motiv an, die Mo­na Lisa an ihren recht­mäßigen Heimatort zurück brin­gen zu wollen. Das Gericht ver­ur­teil­te ihn zu einer Ge­fäng­nis­stra­fe von einem Jahr und 15 Ta­gen Haft. Der Verteidiger leg­te Berufung ein, das Urteil wur­de da­rauf­hin auf sie­ben Mo­na­te und acht Ta­ge ver­kürzt.

6. Anlässlich der Hinrichtung Jean-Jacques Liabeufs fand am 1. Juli 1910 in Paris eine De­mons­tra­tion mit ca. 10.000 Teil­neh­mern statt, bei der auch Pi­cas­so und Lenin an­wesend ge­we­sen sein sollen. Liabeuf war zum Tode ver­ur­teilt worden, weil er am 8. Januar 1910 einen Po­li­zis­ten er­schos­sen und ei­ni­ge andere ver­letzt hatte aus Ra­che für eine als ungerecht emp­fun­de­ne Ver­ur­tei­lung we­gen Zuhäl­terei. Bei dieser De­mons­tra­tion wurde ein Polizist erstochen.

7. Er war auch einer der He­raus­geber von "Sag mir, daß du mich liebst", in dem die Be­zie­hung Erich Maria Re­marques zu Mar­le­ne Dietrich behandelt wird.

8. Hier tritt auch der Kunst­fäl­scher Elmyr de Hory auf, der auch in Der Mona Lisa Schwin­del eine Rolle spielt, wenn auch nur eine be­schei­de­ne. F for Fake ist über wei­te Strecken selbst ein Fake.

9. Der Name taucht erst­mals in ei­nem Artikel Karl Deckers (1868 - 1941) in der Saturday Eve­ning Post vom 25. Juni 1932 als Komplize Valfiernos auf. Dem­nach fertigte er 6 Ko­pien der Mo­na Lisa an.

10. Valfierno veräußerte die Ko­pien an John Jacob Astor (der mit sei­ner frisch angetrauten Ehe­frau die Flit­ter­wo­chen in Eu­ro­pa ver­brachte), Benjamin Gug­gen­heim (dessen Tochter Peg­gy ein skan­dal­trächtiges Le­ben als Kunst­sammlerin führte), Na­ta­lie Barney (Mil­lio­nen­er­bin, Au­to­rin und Grün­derin eines li­te­ra­ri­schen Sa­lons in Paris, in dem auch Proust ver­kehr­te) und John Pierpont Morgan (bis 1913 Präsident des Metro­politan Museum of Art, in dem un­se­re Autorin spä­ter so erfolg­reich tätig sein sollte). Sie alle wa­ren Pas­sa­gie­re auf der Ti­ta­nic, die in der Nacht zum 15. April 1912 im Meer versank.

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25. Mai 2020

Kunst

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